Die Entdeckung des Normalen [Ungeschminkt]

Freunde von mir betreiben hauptberuflich eine Unternehmung für Abenteuerfreizeiten, Klassenfahrten, Seminare und ähnliches für Kinder und Jugendliche. Die Kids werden aus Deutschland gerne mal in die entlegenen Ecken Europas gekarrt und lernen dort nicht selten zum ersten Mal die Natur kennen oder, was auch spannend ist, bunt gemischt aus den wildesten Ecken Europas kommen Austauschjugendliche nach Deutschland. Sie lernen hier in speziell gestalteten Seminaren die interkulturelle Zusammenarbeit untereinander und auch die oftmals überaus befremdliche Kultur Deutschlands, bzw. der Franken kennen.
Für eins solcher Seminare wurde jüngst auch ein Fotografieworkshop eingeplant und als Kenner der Stadt und der Fotografie sollte ich nun eine Gruppe aus jungen Rumänen, Polen, Estländer, Italienern, Griechen und Türken etwas durch Nürnberg führen.
Nichts leichter als das. Ich konfrontierte die Gruppe mit der Idee, dass wir auf keinen Fall die üblichen Touristenwege mit den Sehenswürdigkeiten ablaufen würden. Es wurden von diesen Sehenswürdigkeiten nämlich schon alle erdenklichen Fotos gemacht. Für das Fotografenauge gäbe es nichts mehr zu entdecken auf einer solchen Tour. Ich erklärte, dass man eine Stadt, die Bewohner, die Kultur, ja das ganze ungeschminkte Wesen am besten erkunden kann, wenn man sich dahin begibt, wo die normalen Leute leben: in die Wohngebiete also. Und somit fanden sich die jungen urbanen Forscher direkt in den Seitenstraßen des sehr unaufgeregten Wöhrd wieder und begannen sich mit den überaus schmucklosen Profanbauten deutscher Nachkriegsarchitektur zu beschäftigen. Der Kenner weiß natürlich, für das Fotografenauge gibt es nichts besseres als schmucklose Langeweile. Denn nun ist es gefordert, das besondere und spezielle zu entdecken. Denn jetzt kommt es auf den Fotografen an, etwas aus der Szene zu machen und Kreativität zu entwickeln. Er kann sich nicht mehr auf die Schönheit des Motivs verlassen.
Die Gruppe entdeckte auf der Tour allerhand, von Häusern, die offenbar den Krieg überlebt hatten und sich optisch nicht so recht in ein Straßenbild einfügen wollten und wie ein Fremdkörper wirkten bis hin zu kleinen sauber geharkten Vorgärten mit Tontieren (gibt es etwas deutscheres?). Und alles wurde schön in Szene gesetzt. Eins der Mädels enteckte dann in der Hohfederstraße eine an einen Baum befestige Uhr, die offenbar zu einer Bar gehört. Neben anderen Dingen ist diese Uhr ein Beweis, dass man mit etwas Beobachtung Besonderheiten im Normalen finden kann, wenn man nur Aufmerksam genug ist. Eine schöne Lektion für die Gruppe. Und noch etwas schönes entdeckte der Seminarleiter, ein Italiener aus Rom: Er machte schon öfter solche Fototouren mit Jungendlichen in diversen Ländern und bislang immer inklusive der jeweiligen Sehenswürdigkeiten. Er lobte die Tour als ein besonderes Zeichen von Reife und Selbstbewusstsein, da sonst immer versucht wird, die schönen Seiten zu präsentieren und eher beschämt mit dem profanen umgegangen wird. Und auch die Gruppe hatte ihren Spaß. Es sind viele tolle Fotos entstanden.

Hintergrund
Für den Verlag Nürnberger Presse erstöber ich einmal im Monat eine „ungewöhnliche Stadtansicht“ und erdenke mir einen Text dazu. Beides erscheint dann  im Stadtanzeiger, der Beilage der NN und NZ. Der Name der Fotokolumne ist „Ungeschminkt“. Einen Tag nach der Veröffentlichung in der Zeitung erscheint Bild und Text auch hier im Blog.

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